Ein Tapetenwechsel im Bergell

29. Mai 2021

Text und Bilder: Dominik Gehl

Das Bergell ist ein alpines Tal entlang des Flusses Maira, das teilweise zur Schweiz und teilweise zu Italien gehört. Das Tal beginnt am Malojapass auf 1815 m über dem Meeresspiegel und fällt auf seiner Länge von 32 km in Richtung der italienischen Stadt Chiavenna 1482 m ab. Die Amtssprache ist seit dem 16. Jahrhundert, als norditalienische Glaubensflüchtlinge die Reformation einführten, Italienisch. Seit den 1950er-Jahren profitiert das Tal wirtschaftlich stark von den Wasserkraftwerken, die für das Zürcher Elektrizitätswerk ewz gebaut wurden.

Auf dem Weg ins Bergell

Segantini Museum, St. Moritz

Was liegt also näher, als den Urlaub mit einem Besuch im 1908 eingeweihten Segantini Museum St. Moritz zu beginnen? Es ist architektonisch dem Pavillon nachempfunden, den Segantini für sein Engadin-Panorama auf der Pariser Weltausstellung 1900 entworfen hatte, und beherbergt die vollständigste Sammlung von Werken Segantinis.

Segantinis Hauptwerk, das Alpen-Triptychon, wird in der Kuppelhalle im obersten Stockwerk gezeigt.

Maloja Pass

Die Strasse von St. Moritz ins Bergell führt zunächst am Silvaplanersee und dann am Silser See vorbei, dem grössten natürlichen See der Alpen, der über 1000 Meter liegt. Die Fahrt über den Malojapass ist beeindruckend. Die heutige Strasse hat ihren Ursprung in der zwischen 1827 und 1839 von Richard La Nicca erbauten Strasse mit 13 Kehren.

Im Tal fühlt man sich trotz der hohen Berge wie im Süden. Die Häuser haben das gewisse Flair. Es ist ein kompletter Tapetenwechsel, sehr erfrischend und entspannend!

Ankunft in bondo

Es gibt 5 Dörfer im Schweizer Teil des Bergells: Vicosoprano, Stampa, Bondo, Soglio und Castasegna. Bondo wurde erstmals 1380 erwähnt und hat heute etwa 200 Einwohner. Es befindet sich auf beiden Seiten des Flusses Bondasca. Das Tal ist hier so tief, dass Teile des Dorfes im Winter kein Sonnenlicht abbekommen. Im August 2017 zerstörten Schuttströme vom Piz Cengalo mehrere Gebäude und vor Kurzem wurde eine Hängebrücke über die Bondasca gebaut.

Cäsa Picenoni Cief

Während unserem Aufenthalt im Bergell wohnten wir im Ferienhaus Cäsa Picenoni Cief, das über die Stiftung Ferien im Baudenkmal gemietet werden kann. Das Haus liegt direkt am Dorfplatz und seine Geschichte reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Nach einem verheerenden Dorfbrand im Jahr 1621 wurde es wieder aufgebaut. Acht Generationen der Familie Picenoni nutzten es als Wohnsitz. Das Baudenkmal ist bis heute im Eigentum der Familie.

Wir wurden mit einem prasselnden Feuer im Jägerzimmer, einem regionalen Kastanienkuchen und einem herzlichen Empfang vom Gästebetreuer David Wille begrüsst – unnötig zu sagen, dass wir uns sofort wie zu Hause fühlten, auch wenn dieses Haus auf drei Geschossen viel grösser ist als unsere Wohnung in Lausanne.

Das Wetter überraschte uns mit einigen kalten Tagen und Schnee. So war der Ofen im Wohnzimmer der perfekte Ort, um ein Buch zu lesen und uns aufzuwärmen, während wir ein Puzzle zusammensetzen, das wir im Segantini-Museum gekauft hatten.

Osteria Donato Salis

Gleich auf der anderen Seite des Dorfplatzes stellte uns David Wille Signore Salis vor, den Eigentümer der Osteria Donato Salis, dem Gemischtwarenladen, wo wir frisches Brot für den nächsten Morgen bestellten. Es war so lecker und perfekt für unser Frühstück!

Das Dorf ist voll von kleinen, charmanten Gassen.

Kirche von San Martino

Am 30. Januar 1250 von Bischof Volkard von Neuburg eingeweiht, ist die Kirche St. Martin heute eine evangelisch-reformierte Kirche. Der hohe Turm wurde am Ende des 15. Jahrhunderts hinzugefügt. Bei der Renovierung 1960 wurden im Kirchenschiff und im Chor Wandmalereien von lombardischen Künstlern aus dem 15. Jahrhundert entdeckt und restauriert.

Palazzo Salis

Der Palazzo Salis wurde 1766-76 von dem Mailänder Architekten Francesco Croce im Auftrag des britischen Diplomaten mit schweizerischer Herkunft Graf Hieronymus von Salis erbaut. Der Palazzo wird im Sommer noch heute von Nachkommen der Familie Salis bewohnt.

Das Bergdorf Bondo hat insgesamt drei Schweizer Kulturerbestätten von nationaler Bedeutung: Den Palazzo Salis, die Kirche Santa Maria Nossa Donna und die mittelalterlichen Festungsanlagen von Castelmur. Im Laufe unseres Aufenthaltes werden wir sie alle besuchen.

Übrigens, in Bondo steht ein zweites Ferienhaus der Stiftung: Die Casa Malussi wurde 1522 erbaut und ist das älteste noch erhaltene Wohnhaus in Bondo. Steinfratzen zieren das Eingangstor des mittelalterlichen Steinhauses, die die Bewohner seit 500 Jahren vor Unheil zu schützen. Das Haus wurde 2021 sanft vom heutigen Besitzerehepaar, das in direkter Abstammung mit der Erbauerfamilie steht, restauriert. Sämtliche Arbeiten wurden von ortsansässigen Handwerkern ausgeführt. Im Baudenkmal können bis zu neun Personen übernachten.

Bild: Gataric Fotografie

Das Val Bregaglia entdecken

Palazzo Castelmur in Stampa

Ursprünglich 1723 für Johannes Redolfi erbaut, wurde es um 1850 von Baron Giovanni von Castelmur erworben, der das Gebäude renovierte und erweiterte. Die markante Fassade im lombardisch-venezianisch-gotischen Stil ist Teil dieser Erweiterung, die von verschiedenen Mailänder Handwerkern wie dem Ingenieur und Architekten Giovanni Crassi-Marliani, dem Steinmetz Giovanni Pedrazzini und dem Maler Gaspare Tirinanzi durchgeführt wurde. Heute gehört das Anwesen der Gemeinde und dient als Museum.

Die Trompe-l’oeil-Malereien an den Decken sind faszinierend.

Der Palazzo Castelmur ist der perfekte Ort, um etwas über die Graubündner Konditoren zu erfahren, einer Tradition, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. In der Zeit reichte der Lebensunterhalt in Teilen Graubündens nicht aus, um die lokale Bevölkerung zu ernähren. Viele junge Leute und Familien verliessen ihre Heimat und verdienten ihren Lebensunterhalt in der Fremde, vor allem als Konditoren. Im Jahr 1766 wurden 38 von 42 Konditoreien in Venedig von Bündner Bauern betrieben. Als diese aus politischen Gründen aus Venedig vertrieben wurden, verteilten sie sich über ganz Europa. Bis heute kann man Bündner Zuckerbäcker in 891 Europäischen Städten nachweisen, von Kopenhagen bis St. Petersburg.

Im Palazzo Castelmur befindet sich eine Dauerausstellung über die Bündner Konditoren sowie eine über die Familie Castelmur, die selbst Teil der Konditoren-Tradition war: Der Vater von Giovanni von Castelmur betrieb eine Konditorei in Marseille, und Giovanni selbst führte nach seinem Studium der Politik und der Rechtswissenschaften eine Konditorei in Nizza.

Gegenüber des Palazzos, auf der anderen Flussseite der Maira, befindet sich übrigens ein weiteres Ferienhaus der Stiftung Ferien im Baudenkmal, die Casa Palü. Das im 17. Jahrhundert erbaute Steinhaus wurde als Gerberei und Wohnhaus genutzt. Ab 1964 diente es als Ferien- und Gästehaus des bekannten Schweizer Kunstmalers Varlin.

Bild: Gataric Fotografie

Wanderung von Bondo zu den mittelalterlichen Festungsanlagen von Castelmur

Sowohl die Kirche Santa Maria Nossa Donna als auch die mittelalterlichen Festungsanlagen von Castelmur liegen direkt nebeneinander und können über die Via Bregaglia erreicht werden, einem Fernwanderweg, der von Maloja nach Chiavenna führt und in drei Tagen bewältigt werden kann. Aber keine Sorge, der Weg von Bondo bis zu den Festungsanlagen dauert nur ca. 1h zu Fuss.

Wir verlassen das Zentrum von Bondo über die Hängebrücke und nehmen dann nach dem Gemeindeverwaltungsgebäude die Via Bregaglia, die hinauf in den Wald führt.

Die mittelalterliche Festungsanlage Castelmur

Die Ruinen der mittelalterlichen Festungsanlage Castelmur liegen auf einem natürlichen Felsriegel; die Kantonsstrasse führt heute durch den Promontogno-Tunnel darunter hindurch. Nur ein fünfstöckiger Wohnturm der um 1300 erbaut wurde, ist von der Anlage erhalten geblieben. Er ist 12 mal 12 Meter gross und seine Wände sind 2,4 Meter dick. Die Aussicht durch die Fenster ist wunderschön.

Santa Maria Nossa Donna

Erstmals im Jahr 988 erwähnt, wurde die Kirche in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts umfassend renoviert und mit einer Glocke ausgestattet, die im ganzen Tal zu hören war. Mit dem Übergang des Bergells zur Reformation wurde die Kirche dem Verfall überlassen. Die Brüder Giovanni und Bortolo von Castelmur erwarben die Kirche im Jahr 1839 und restaurierten sie. Giovanni, seine Frau, sein Bruder Bortolo und andere nahe Verwandte wurden in der Krypta beigesetzt.

Soglio

Soglio wurde erstmals 1186 erwähnt und liegt auf einer Sonnenterrasse hoch über dem Fluss Maira. Soglio ist die Ursprungsgemeinde der Familie De Salis, einer der ältesten Adelsfamilien Graubündens. Es gibt mehrere De Salis-Häuser im Dorf, darunter die Casa Battista, erbaut 1630, die seit 1876 das Hotel Palazzo Salis ist. Zu seinen Gästen gehörten Giovanni Segantini, Alberto Giacometti und Rainer Maria Rilke.

Soglio ist der perfekte Ort für einen Spaziergang an der Sonne!

Castasegna

Castasegna wurde erstmals 1374 erwähnt und liegt direkt an der italienischen Grenze. Castasegna bedeutet Kastanienhain und passt hervorragend zu dem Dorf mit dem grössten Kastanienwald Europas.

Villa Garbald

Die Villa Garbald wurde zwischen 1863 und 1864 nach den Plänen des berühmten Architekten Gottfried Semper erbaut. Sie ist das einzige von Semper entworfene Gebäude südlich der Alpen. Seit 2004 wird sie als Seminarzentrum genutzt. Die Villa Garbald wurde 2004 um den Turm Roccolo von Miller&Maranta ergänzt. Der sechsstöckige Erweiterungsbau enthält im Erdgeschoss einen Vortragsraum für 25 Personen und in den Obergeschossen zehn Zimmer.

Die jahrhundertealte, italienisch geprägte Architektur, die Beschaulichkeit der kleinen Dörfer, die kulinarischen Spezialitäten und die vielen Wanderwege machen das Bergell zu einem wunderbaren Ort für eine Auszeit!

Unsere Frühlings-Reise durch das Graubünden begann in der Bündner Herrschaft (..zum Reisebericht), verlief durch die Surselva (..zum Reisebericht) und endete schliesslich im Bergell. Immer wieder aufs Neue bin ich von der landschaftlichen und baukulturellen Vielfalt der Schweiz begeistert. Ich freue mich schon auf die nächste Region die es zu entdecken gibt. Zu allen Reiseberichten

Dominik Gehl lebt in Lausanne und arbeitet als Software-Ingenieur. Zu seinen Hobbys gehören Architekturreisen und Fotografieren. Auf Instagram postet er täglich unter @dominikgehl.